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Die Ästhetik des Kaputtgehens
Sozialphilosophische Malerei zwischen Erschöpfung und Erneuerung
Ein Essay über das produktive Scheitern in der zeitgenössischen Kunst
I. Das Unbehagen am perfekten Bild
Es gibt Momente in der Kunstgeschichte, in denen das Gelingen verdächtig wird. Wenn alles zu glatt läuft, wenn jede Geste sitzt und jede Komposition aufgeht, dann meldet sich ein Unbehagen, das tiefer reicht als ästhetische Präferenz. Es ist das Unbehagen an einer Perfektion, die der Erfahrung der Realität nicht mehr entspricht. Wir leben in einer Zeit der permanenten Krise, der fragmentierten Identitäten und beschädigten Lebenswelten – warum sollten unsere Bilder davon unberührt bleiben?
Die sozialphilosophische Malerei unserer Gegenwart hat auf diese Diskrepanz eine radikale Antwort gefunden: Sie macht das Kaputtgehen zu ihrem Programm. Nicht als Zufall oder bedauerlichen Unfall, sondern als bewusste Strategie der Wahrhaftigkeit. Das beschädigte Bild wird zum authentischen Ausdruck einer beschädigten Zeit.
Diese Entwicklung ist nicht ohne Vorläufer. Bereits in den 1950er Jahren erkannte Alberto Burri, dass seine mit Säcken, Teer und verbranntem Plastik erstellten Werke mehr über die Nachkriegszeit aussagten als jede heroische Geste der Abstraktion. Seine "Sacchi" von 1952 sind Wundverbände einer traumatisierten Gesellschaft, seine "Combustioni" von 1957 tragen die Spuren einer Welt, die buchstäblich in Flammen aufgegangen war. Burri malte nicht über die Zerstörung – er malte mit ihr.
II. Genealogie des Beschädigten
Von der Wunde zur Methode
Die Geschichte der beschädigten Malerei beginnt nicht mit dem bewussten Kaputtmachen, sondern mit der Entdeckung, dass Beschädigung bedeutungsvoller sein kann als Intaktheit. Bereits Caravaggio arbeitet mit einer Ästhetik des Versehrten – seine Heiligen tragen die Zeichen realer Gewalt, seine Lichtführung reißt brutale Wunden in die Finsternis. Aber das ist noch Darstellung von Beschädigung, nicht Beschädigung als Darstellungsmittel.
Den entscheidenden Schritt macht erst die Moderne. Wenn Picasso 1907 in den "Demoiselles d'Avignon" die menschliche Figur zerbricht, dann nicht aus Unfähigkeit, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass die intakte Figur eine Illusion geworden ist. Die Kubisten operieren systematisch mit dem Fragment, aber sie tun es noch im Dienst einer neuen, intellektuell kontrollierten Ordnung.
Die eigentliche Revolution der Beschädigung beginnt nach 1945. Lucio Fontanas "Concetto Spaziale" von 1949 – jene berühmten Schlitze in der Leinwand – sind mehr als formale Experimente. Sie sind Wunden im Bildraum, die eine neue Dimension des Sehens eröffnen. Fontana schneidet nicht nur die Leinwand auf, er schneidet in die Illusion der Malerei selbst hinein. Das Bild wird zum Objekt, das seine eigene Zerstörung überlebt hat.
Informel als Gesellschaftsdiagnose
Die Informel-Bewegung der 1950er und 60er Jahre entwickelt diese Logik weiter. Jean Fautrier mit seinen "Otages" (1943-1945) schafft Bilder, die aussehen wie aufgerissene Haut. Wols kratzt und ritzt seine Oberflächen auf, bis sie wie Landkarten einer verwüsteten Psyche wirken. Jean Dubuffet gründet seine "Art Brut" auf der Überzeugung, dass nur das Ungebildete, Beschädigte, Verrückte noch authentisch sein kann.
Aber das Informel bleibt letztlich noch einer romantischen Vorstellung von Authentizität verpflichtet. Es glaubt an das reine, ursprüngliche Subjekt, das sich jenseits aller kulturellen Kodierung ausdrücken kann. Die postmoderne Malerei wird diese Illusion zerstören – und damit eine neue Form der Beschädigung erfinden.
III. Die postmoderne Wende: Appropriation als Anatomie
Sherrie Levine und das Ende der Originalität
1981 fotografiert Sherrie Levine Walker Evans' berühmte Fotografien aus den 1930er Jahren ab und stellt sie unter ihrem Namen aus. "After Walker Evans" ist mehr als ein provokatives Spiel – es ist die Diagnose einer kulturellen Situation, in der Originalität unmöglich geworden ist. Aber Levine macht noch mehr: Sie zeigt, dass gerade in dieser Unmöglichkeit eine neue Form der Wahrhaftigkeit liegt.
Levines Arbeiten sind "kaputte" Bilder in einem präzisen Sinn: Sie funktionieren nicht mehr nach den klassischen Gesetzen der Autorschaft und Originalität. Sie sind Bilder, die ihre eigene Sekundärität ausstellen. Und genau darin liegt ihre Kraft: Sie zeigen eine Kultur, die nur noch von Kopien und Zitaten lebt – und machen diese Situation produktiv.
Gerhard Richter: Der Unschärfe-Philosoph
Richters unscharfe Fotografienmalereien seit den 1960er Jahren sind ein anderer Weg, das "kaputte" Bild zu denken. Seine Familie-am-Meer-Bilder oder die Porträts von RAF-Terroristen sind systematisch beschädigt – durch Unschärfe, durch Übermalung, durch Verwischung. Aber diese Beschädigung ist nicht zufällig. Sie ist Richters Antwort auf das Problem der Abbildung in einer mediatisierten Welt.
Richter malt keine Realität – er malt Bilder von Realität. Und er zeigt, dass diese Bilder bereits beschädigt sind, bevor er sie überhaupt berührt. Seine Unschärfe ist die Visualisierung eines erkenntnistheoretischen Problems: Wir haben keinen direkten Zugang zur Realität mehr, nur noch zu ihren medialen Repräsentationen. Das unscharfe Bild ist das ehrliche Bild – es gibt zu, dass es nicht die Wahrheit zeigen kann.
IV. Zeitgenössische Positionen: Malerei nach der Malerei
Die Neo-Geo-Generation und ihre Erben
Die amerikanische Neo-Geo-Bewegung der 1980er Jahre um Peter Halley entwickelt eine andere Form der "kaputten" Malerei. Halleys Day-Glo-Gemälde simulieren Schaltkreise und Gefängniszellen – sie sind Malereien über das Ende der Malerei. Halley malt mit den Mitteln der Pop-Kultur über eine Realität, die selbst bereits zur Simulation geworden ist.
Aber die wirklich radikalen Positionen entstehen erst in den letzten zwei Jahrzehnten. Künstler wie Albert Oehlen oder Charline von Heyl entwickeln Strategien des bewussten "Kaputtmalens", die über alle historischen Vorläufer hinausgehen.
Albert Oehlen: Computersabotage als Malerei
Oehlen beginnt in den 1990er Jahren, seine Bilder teilweise am Computer zu entwickeln und dann wieder zu überarbeiten. Seine "Computer-Bilder" sind bewusst schlecht – pixelig, grell, ästhetisch misslungen. Aber gerade in diesem Misslingen liegt ihre Pointe. Oehlen zeigt, wie sich die Malerei zur digitalen Bildwelt verhält: nicht als nostalgischer Rückzug, sondern als kritische Sabotage.
Seine späteren Arbeiten treiben diese Logik weiter. Er malt über Computerausdrucke, collagiert digitale Elemente ein, lässt alles ineinanderlaufen. Die Bilder sehen aus wie gescheiterte Versuche, Ordnung in ein chaotisches Bildarchiv zu bringen. Und genau das sind sie auch – Metaphern für unseren Umgang mit der Bilderflut der Gegenwart.
Charline von Heyl: Die Groteske des Guten Geschmacks
Von Heyls Malerei der letzten Jahre ist ein systematischer Angriff auf jeden guten Geschmack. Sie kombiniert abstrakte Gesten mit Comic-Figuren, mischt High und Low, elegant und kitschig, kontrolliert und zufällig. Ihre Bilder sind "kaputt" in dem Sinne, dass sie nicht funktionieren wollen – sie verweigern sich der ästhetischen Befriedigung.
Aber diese Verweigerung ist produktiv. Von Heyl malt die Unvereinbarkeit verschiedener Bildwelten – und macht gerade diese Unvereinbarkeit zu ihrer Stärke. Ihre Bilder sind Collagen aus Bilderfetzen einer übersättigten visuellen Kultur. Sie funktionieren nicht, weil die Kultur, die sie spiegeln, auch nicht funktioniert.
V. Philosophische Grundlegungen: Die Dialektik des Beschädigten
Walter Benjamin und das zertrümmerte Bild
Benjamins "Dialektik im Stillstand" findet in der beschädigten Malerei ihre materielle Entsprechung. Wenn Benjamin von Bildern spricht, die "zur Lesbarkeit gelangen", dann meint er nicht harmonische, in sich geschlossene Darstellungen, sondern solche, die ihre historischen Brüche ausstellen. Das kaputte Bild ist ein Geschichtsbild – es macht die Katastrophe der Moderne nicht nur sichtbar, sondern physisch erfahrbar.
Benjamins berühmte Allegorie des "Angelus Novus" – Paul Klees Engel der Geschichte, der rückwärts in die Zukunft fliegt und dabei die Trümmer der Vergangenheit anhäuft – ließe sich als Programm für die sozialphilosophische Malerei lesen. Auch sie sammelt Trümmer: zerbrochene Bildtraditionen, gescheiterte Utopien, verlorene Hoffnungen. Aber sie fügt sie nicht zu neuer Harmonie zusammen, sondern lässt sie in ihrer Zerrissenheit bestehen.
Die "Aura" des Kunstwerks, deren Verfall Benjamin konstatierte, kehrt in der beschädigten Malerei paradoxerweise wieder – aber als negative Aura. Das kaputte Bild hat eine Präsenz, die gerade aus seiner Verweigerung der Präsenz erwächst. Es ist da, aber als Absenz seiner selbst.
Theodor W. Adorno: Ästhetik der Verweigerung
Adornos "Ästhetische Theorie" bietet den wohl präzisesten theoretischen Rahmen für das Verständnis beschädigter Malerei. Für Adorno ist das authentische Kunstwerk eines, das der gesellschaftlichen Falschheit widersteht – und zwar gerade dadurch, dass es keine positive Alternative anbietet. "Das Kunstwerk ist um so authentischer, je mehr es der eigenen Beschädigung standhalten kann, ohne sie zu verleugnen."
Diese Wendung ist entscheidend: Es geht nicht darum, die Beschädigung zu überwinden, sondern ihr standzuhalten. Das kaputte Bild erträgt seine eigene Unmöglichkeit – und wird gerade dadurch zum Ort der Wahrheit. Es funktioniert nicht, aber es funktioniert nicht auf eine Weise, die mehr über unsere Verhältnisse aussagt als jedes funktionierende Bild.
Adornos Begriff des "ästhetischen Scheins" bekommt in diesem Kontext eine neue Bedeutung. Der Schein ist nicht das Falsche, das durch Wahrheit zu ersetzen wäre, sondern das Medium, in dem Wahrheit überhaupt erscheinen kann. Das beschädigte Bild ist scheinhaft – aber es ist ein Schein, der seine eigene Scheinhaftigkeit preisgibt.
Jean Baudrillard: Die Simulation des Scheiterns
Baudrillards Theorie der Simulation wirft ein anderes Licht auf die beschädigte Malerei. In einer Welt, in der alle Realität bereits zur Simulation geworden ist, wird das "kaputte" Bild zur letzten Form der Authentizität. Es simuliert das Scheitern – aber dieses Scheitern ist echter als jede gelungene Simulation.
Die beschädigte Malerei arbeitet mit dem, was Baudrillard die "Strategie der Illusion" nennt. Sie gibt nicht vor, Realität abzubilden, sondern stellt aus, dass sie es nicht kann. Diese Ehrlichkeit macht sie subversiv in einer Kultur der allgegenwärtigen Täuschung.
VI. Materialität und Prozess: Die Techniken des Kaputtgehens
Destruktive Gesten als konstruktive Akte
Die Techniken der beschädigten Malerei sind vielfältig, aber sie folgen alle einer gemeinsamen Logik: Sie machen Zerstörung produktiv. Das Aufreißen der Leinwand (Fontana), das Übermalen und wieder Freilegen (Richter), das bewusste Verschmieren und Verwischen (Oehlen) – all diese Gesten sind Formen der kontrollierten Unkontrolliertheit.
Anselm Kiefer entwickelt seit den 1970er Jahren eine Materialästhetik, die diese Logik auf die Spitze treibt. Seine Bilder sind Schlachtfelder aus Stroh, Blei, Asche und Sand. Sie sehen aus wie Überreste einer Katastrophe – und das sind sie auch. Kiefer malt die deutsche Geschichte als Ruinenlandschaft, aber er tut es mit den Materialien der Ruine selbst.
Die Materialität des Beschädigten wird zum Argument. Wenn Kiefer Blei auf die Leinwand gießt, dann nicht als dekorativen Effekt, sondern als historisches Zeugnis. Das Blei trägt die Schwere der Geschichte, seine Oxidation ist Zeit im buchstäblichen Sinn.
Die Zeit als Zerstörer und Vollender
Ein wesentlicher Aspekt der beschädigten Malerei ist ihr Verhältnis zur Zeit. Während die klassische Malerei darauf angelegt ist, die Zeit zu überdauern, arbeitet die beschädigte Malerei mit der Zeit als destruktiver Kraft. Sie lässt zu, dass ihre Materialien altern, oxidieren, sich verfärben.
Roman Opalkas "Details" seit 1965 – jene Bilder, auf denen er Jahr für Jahr Zahlen malt, von 1 bis zur Unendlichkeit – sind Chronometer des Verfalls. Jedes Bild dokumentiert nicht nur die verstrichene Zeit, sondern auch den Prozess der eigenen Entstehung und Zerstörung. Die weißer werdenden Hintergründe visualisieren die Annäherung an den Tod.
Diese temporale Dimension macht die beschädigte Malerei zu einem Medium der Geschichtsreflexion. Sie ist nicht zeitlos schön, sondern zeitlich verwundbar. Und gerade diese Verwundbarkeit wird zu ihrer Stärke.
VII. Gesellschaftliche Dimensionen: Das Politische der Beschädigung
Neoliberalismus und die Ästhetik des Ruins
Die beschädigte Malerei der Gegenwart ist untrennbar mit der neoliberalen Transformation der Gesellschaft verbunden. Seit den 1980er Jahren erleben wir den systematischen Abbau sozialer Sicherheiten, die Privatisierung öffentlicher Güter, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Die Gesellschaft wird systematisch "kaputt" gemacht – warum sollte die Kunst davon unberührt bleiben?
Künstler wie Mike Kelley oder Paul McCarthy entwickeln in den 1990er Jahren eine Ästhetik des kulturellen Abfalls. Kelleys "More Love Hours Than Can Ever Be Repaid" (1987) – eine Installation aus weggeworfenen Stofftieren – ist eine Archäologie der verdrängten Kindheit im Spätkapitalismus. Die Stofftiere sind "kaputt" in einem doppelten Sinn: physisch beschädigt und psychisch aufgeladen.
Diese Arbeiten sind nicht nur Darstellungen gesellschaftlicher Beschädigung, sondern selbst beschädigte Objekte. Sie nehmen die Form dessen an, was sie kritisieren. Das ist ihre subversive Kraft – und ihre Schwäche zugleich.
Die Krise der Repräsentation
Die beschädigte Malerei reagiert auf eine fundamentale Krise der Repräsentation. In einer Welt, in der Bilder schneller produziert werden, als sie betrachtet werden können, in der jede Realität bereits medial überformt ist, verliert die traditionelle Malerei ihre Daseinsberechtigung. Was soll sie noch zeigen, was nicht bereits gezeigt wurde?
Die Antwort der beschädigten Malerei ist radikal: Sie zeigt das Nicht-Zeigen-Können. Sie macht ihre eigene Unmöglichkeit zu ihrem Thema. Das ist mehr als ein formales Spiel – es ist eine erkenntnistheoretische Position.
Gerhard Richter formuliert das in aller Klarheit: "Ich habe keine Botschaft. Ich habe nur Probleme." Die beschädigte Malerei ist Problemkunst – sie löst nichts, sie stellt aus. Und gerade diese Verweigerung der Lösung wird zu ihrer gesellschaftskritischen Kraft.
Widerstand durch Verweigerung
Die beschädigte Malerei verweigert sich den Imperativen der Kulturindustrie. Sie ist nicht schön im herkömmlichen Sinn, nicht spektakulär, nicht instagrammbar. Sie beharrt auf der Langsamkeit in einer beschleunigten Welt, auf der Unperfektion in einer perfektionierten Gesellschaft.
Diese Verweigerung ist eine Form des Widerstands. Nicht der heroische Widerstand der Avantgarde, der die Welt verändern will, sondern der melancholische Widerstand der Nachavantgarde, die weiß, dass sie nichts verändern kann – und gerade deshalb nicht aufhört.
VIII. Aktuelle Positionen: Malerei im Zeitalter der Algorithmen
Die Digitale Generation und das Analoge Scheitern
Eine neue Generation von Malern, geboren in den 1980er und 90er Jahren, wächst mit digitalen Bildern auf. Für sie ist die Frage nach der Authentizität der Malerei existenziell: Warum noch malen, wenn jedes erdenkliche Bild bereits digital existiert?
Künstler wie Jordan Wolfson oder Avery Singer finden radikale Antworten. Wolfson lässt seit 2010 Roboter malen – aber die Bilder, die dabei entstehen, sind grotesken Karikaturen menschlicher Expressivität. Die Maschine kann alles kopieren, nur nicht die menschliche Fehlbarkeit. Das wird zu ihrem Programm.
Singer arbeitet seit 2013 mit 3D-Rendering-Software, um ihre Bildkompositionen zu entwickeln, und überträgt sie dann in Malerei. Ihre Bilder sehen aus wie gescheiterte Versuche, digitale Realität in analoge zu übersetzen. Sie sind bewusst "falsch" – die Perspektiven stimmen nicht, die Schatten sind unmöglich, die Farben künstlich. Aber gerade diese Falschheit macht sie zu authentischen Dokumenten unserer hybriden Bildwelt.
Amy Sillman: Die Zeichnung als Widerstand
Amy Sillmans Malerei der letzten Jahre entwickelt eine andere Strategie. Ihre großformatigen Arbeiten sehen aus wie riesige Skizzen – unfertig, suchend, voller Korrekturen und Übermalungen. Sillman macht die Zeichnung zum Widerstand gegen die Malerei.
Ihre "iPhone Drawings" seit 2010 sind auf dem Handy gezeichnete Bilder, die sie dann als Malerei realisiert. Der Medienwechsel produziert systematische Verluste – Details gehen verloren, Farben verfälschen sich, Proportionen stimmen nicht mehr. Aber genau diese Verluste werden zu neuen Qualitäten.
Sillman arbeitet mit dem, was die Informationstheorie "Rauschen" nennt – den Störungen, die bei jeder Übertragung auftreten. Ihre Malerei ist gemaltes Rauschen, visualisierte Interferenz zwischen verschiedenen Medien.
Katharina Fritsch: Die Perfektion als Alptraum
Fritschs Skulpturen sind eigentlich Anti-Malerei – perfekt glatte, grell gefärbte Objekte, die jede malerische Geste verweigern. Aber gerade darin liegt ihre Kritik an der Bildkultur. Ihre "Rattenkönig" (1993) oder "Hahn/Cock" (2013) sind Traumbilder einer perfektionierten Welt – und als solche Alpträume.
Die Perfektion wird bei Fritsch zur Form der Beschädigung. Ihre Objekte sind so vollkommen, dass sie unheimlich werden. Sie zeigen, was geschieht, wenn alle Spuren des Machens getilgt sind – es entsteht eine Ästhetik des Todes.
IX. Die Ökonomie des Scheiterns: Kunstmarkt und Kritik
Das Paradox der Verwertung
Die beschädigte Malerei steht vor einem grundsätzlichen Paradox: Jede noch so radikale Kritik wird vom Kunstmarkt absorbiert und zur Ware. Das "kaputte" Bild wird zum wertvollen Objekt, die Verweigerung wird zum Markenzeichen.
Dieses Paradox ist nicht auflösbar, aber es ist reflektierbar. Künstler wie Martin Kippenberger haben es bereits in den 1980er Jahren thematisiert. Kippenbergers "Lieber Maler, male mir" (1981) – eine Serie von Auftragsarbeiten an Laienmaler – ironisiert das gesamte System der künstlerischen Autorschaft. Die Bilder sind bewusst schlecht, aber sie werden gerade deshalb zu begehrten Sammlerobjekten.
Das System schluckt alles – auch seine eigene Kritik. Die beschädigte Malerei kann diesem Mechanismus nicht entkommen, aber sie kann ihn ausstellen. Sie wird zu ihrer eigenen Kritik.
Christopher Wool: Die Industrialisierung der Geste
Wools Malerei seit den 1980er Jahren ist eine systematische Dekonstruktion des malerischen Gestus. Seine frühen Wortbilder ("SELL THE HOUSE SELL THE CAR SELL THE KIDS") sind mit Schablonen auf die Leinwand gesprüht – maschinelle Reproduktion handschriftlicher Verzweiflung.
Seine späteren Arbeiten steigern diese Logik. Wool arbeitet mit Fotokopierer, Siebdruck und digitaler Bearbeitung. Jedes Bild durchläuft einen Prozess systematischer Verschlechterung – kopiert, vergrößert, verzerrt, übermalt, wieder kopiert. Am Ende steht ein Bild, das aussieht wie der Überrest eines Bildes.
Wool industrialisiert das Kaputtgehen. Seine Bilder entstehen in Serien, nach reproduzierbaren Verfahren. Das Scheitern wird zur Methode, die Beschädigung zur Technik.
X. Ausblick: Die Zukunft des kaputten Bildes
Neue Materialitäten
Die jüngste Generation experimentiert mit neuen Formen der Beschädigung. Künstler wie Puppies Puppies (Jade Kuriki-Olivo) arbeiten mit vergänglichen Materialien – Eis, organische Substanzen, chemisch instabile Verbindungen. Ihre Arbeiten sind programmatisch vergänglich, sie zerstören sich selbst im Moment ihrer Entstehung.
Diese "ultra-beschädigte" Kunst geht über alle historischen Vorläufer hinaus. Sie macht nicht nur das Scheitern zum Thema, sondern organisiert ihren eigenen Untergang. Das ist Kunst nach dem Ende der Kunst – Kunst, die sich selbst abschafft.
Die Ökologie der Ruine
Der Klimawandel gibt der beschädigten Malerei eine neue Dimension. Künstler wie Tomás Saraceno oder Olafur Eliasson arbeiten mit den Materialien der Umweltzerstörung – verschmutzter Luft, kontaminiertem Wasser, radioaktivem Staub. Ihre Arbeiten sind nicht nur Darstellungen der ökologischen Krise, sondern buchstäblich aus ihr gemacht.
Diese "toxic paintings" führen die Logik der beschädigten Malerei zu ihrem Ende: Das Bild wird zum Symptom einer beschädigten Welt. Es ist nicht mehr Kritik der Verhältnisse, sondern deren direkter Ausdruck.
Das kaputte Bild als Hoffnungsträger
Am Ende bleibt die paradoxe Hoffnung des kaputten Bildes. In einer Zeit, in der alle Utopien gescheitert sind, in der jede positive Vision sich als Ideologie entlarvt hat, wird das Scheitern selbst zur letzten Form der Ehrlichkeit.
Das kaputte Bild lügt nicht. Es verspricht keine bessere Welt, es bietet keinen Trost, es löst keine Probleme. Aber gerade in dieser Verweigerung liegt seine Kraft. Es zeigt, dass auch nach dem Ende aller Illusionen noch etwas möglich ist – nicht als Lösung, sondern als andere Form des Ganzen.
Die beschädigte Malerei ist Kunst nach dem Ende der Kunst. Sie malt nicht mehr die Welt, wie sie ist oder sein soll, sondern die Unmöglichkeit, sie zu malen. Und macht gerade diese Unmöglichkeit zu ihrer Möglichkeit.
In einer kaputten Welt ist das kaputte Bild das wahre Bild. Es zeigt nicht die Wahrheit – es ist die Wahrheit. Eine Wahrheit allerdings, die nur als Bruch, als Fragment, als Ruine zu haben ist. Aber das ist immer noch mehr als die Lüge der heilen Bilder.
"Das einzige, was heute noch authentisch ist, ist das Scheitern. Alles andere ist Simulation."
hybridtext C.L.A.U.D.E/KINP